WM – 13. Spieltag, Abendsession: Mehrere Kultspieler, ein kommender Superstar und ein episches Bühnendrama, wie man es nicht besser hätte inszenieren können

Die letzten drei Partien der vierten Runde hatten es, wenn auch aus total unterschiedlichen Gründen, nochmal ganz gehörig in sich. Da war viel positive Brisanz drin, viel Kult und auch viel Zukunftsmusik.

Den Beginn machten Gary Anderson und Brendan Dolan, der einzige wirkliche Klassiker unter den heutigen Partien. Die beiden waren schon 19 Mal gegeneinander angetreten und wiesen auch eine ziemlich ausgeglichene Bilanz auf. Neun Matches konnte Brendan Dolan für sich entscheiden, zehnmal siegte der „Flying Scotsman“. Natürlich war auch nicht vollkommen unbedeutend, dass die beiden sich bei der Weltmeisterschaft erst zweimal gegenüberstanden, beide Male mit dem besseren Ende für den zweimal erfolgreichen WM-Titelträger.

Der Nordire, obwohl ein „History Maker“ sowie mit der bekanntesten Helikopter Bewegung der Dartsszene ausgestattet, ist eher eine unaufgeregte Erscheinung im Circus und läuft daher immer so ein wenig unter dem Radar. Das tut beispielsweise auch ein James Wade, den das aber relativ massiv stört, ein Danny Noppert, dem das reichlich egal ist und eben auch jener Brendan Dolan, der sich dazu gar nicht äußert. Von sich reden gemacht, hat der Nordire aber sehr wohl jüngst mal wieder und zwar in seinem Drittrundenmatch. Davor hatte er in einem ebenso historischen (das erste rein nordirische Duell bei einer PDC-WM), wie epischen Match (die beiden Nordiren brauchten eine Stunde und 18 Minuten, um den Kampf um das Drittrundenticket unter sich auszumachen), seinen Best Friend, Mickey Mansel niedergerungen. Aber auch gegen jeglichen ganz großen Namen ist Brendan Dolan immer für einen Sieg gut. Und eben das bewies er in besagtem Drittrundenduell, als er keinen Geringeren als den Weltmeister von 2021, „Iceman“ Gerwyn Price, eiskalt abservierte. Der konnte damit bereits vor dem Achtelfinale seine Eiswürfel und auch seine Darts wieder einpacken und nach Hause fahren. Immerhin hat der ehemalige Rugby-Profi dadurch etwas mehr Zeit erhalten, seine Hoffnung, dass man die Darts-WM aus dem Ally Pally heraus nach Bahrain verlegt, eventuell doch neu zu überdenken. Dass es allerdings Brendan Dolan sein würde, der die walisische Nummer Eins, ohne Widerspruch zu erdulden, aus dem Turnier hinauskomplimentiert, hatte, außer vielleicht Ehefrau Teresa Dolan, wirklich niemand vorausgesehen. Heute wollte der „History Maker“ dieses Kunststück im Match gegen Gary Anderson wiederholen.

Dass Gary Anderson nicht nur der neue Liebling der Deutschen ist, sondern sich auch auf der Great Britischen Insel höchster Beliebtheit erfreut, zeigte sich allerspätestens als John McDonald den „Two Times Back-to-Back Champion of the Wooooorld“ aufrief.

Und dann hieß es auch schon wieder: „Game on!“

Und schon im ersten Satz zeigte Brendan Dolan, auf welche Weise er Gerwyn Price vermittelt hatte, wie er den Weg nach draußen am leichtesten findet. Die ersten drei Durchgänge räumte der Nordire ab, ohne auch nur eine einzige Miene zu verziehen. Teresa zeigte da schon weit mehr Emotionen. Selbst der Gesichtsausdruck von Gary Anderson sprach im Vergleich dazu Bände. Da waren allerdings Bände dabei, die vermutlich der Feder von Mary Shelley entstammen. Der „Flying Scotsman“ ärgerte sich mit Sicherheit weniger über die Tatsache, dass Dolan die Segmente grundsolide traf, als noch viel mehr über seine eigenen Fehlversuche, ergo seine verpassten Chancen, das Set für sich zu entscheiden. 1:0 in Sätzen für Brendan Dolan.

In den ersten beiden Durchgängen des zweiten Satzes nahm jeder erstmal sein Anwurfleg in Gewahrsam. 1:1. Im zweiten Durchgang offenbarte der beliebte Schotte weiterhin ungewöhnliche Unsicherheiten, dass er beim Stand von 121 Restpunkten, in der nächsten Aufnahme: 1 – 1 – 3 warf, (damit niemand selbst nachrechnen muss, hier die addierte Summe = 5), war zu diesem Zeitpunkt bezeichnend. Entsprechend war auch das zweite Leg als Break bald auf Dolans Konto gelandet. 2:1. Den dritten Durchgang nahm der „History Maker“ dann mit High-Finish heraus. Dass es mit glatt 100 (T20, D20) kein geschichtsträchtiger Checkout sein würde, war ihm vollkommen egal. 2:0-Satzführung für den Underdog in diesem Match, und Teresa hielt es vor Begeisterung kaum noch auf ihrem Stuhl.

Und damit zwischenzeitlich auch niemand mehr über die Frage nach Bänden von Mary Shelley nachdenken muss: ja, sie ist die Urheberin von „Frankenstein“. Nachdenklich stimmten allerdings weiterhin die Anlaufschwierigkeiten von Gary Anderson. Die ersten Sorgenfalten auf den Gesichtern der Fangemeinde, ach, was heißt hier „Fangemeinde“, besser gesagt: des Fanuniversums, machten sich breit. Um zu verhindern, dass alle gleich losrannten, um sich Faltencreme zu besorgen, schaltete Gary Anderson in Set Drei ein paar Gänge nach oben. Gut, in den ersten beiden Durchgängen war davon noch nichts zu erkennen. Als der „History Maker“ das 1:0 einstrich, war der Schotte noch auf der 204 abgeblieben, aber das war schließlich auch Dolans eigenes Leg. Im zweiten Durchgang zählte die Ausrede nicht mehr, den holte der Nordire gegen den Anwurf, 2:0. Aber dann war er wirklich da, der Gary. Drei Leggewinne in Folge, und endlich hatte auch der „Flying Scotsman“ sein erstes Set verbucht. 1:2.

„So konnte es weitergehen“, mutmaßte die Fanschar des Schotten und skandierte: „Oooooh, Gary, Gary …!“ Im vierten Set holte sich abermals jeder seinen Anwurf, 1:1. Anderson kam der lautstarken Forderung nach, die nächsten beiden Durchgänge mit gewohnt legerer Wurfbewegung eingeholt, und nun war es wieder ein Match auf Augenhöhe, Satzausgleich 2:2. Jetzt war es Anderson-Junior, den es nicht mehr auf dem Stuhl hielt, und auch die Menge war einfach nur begeistert.

Doch Brendan Dolan ließ sich nicht so einfach abschütteln. Und weil der „History Maker“ gerade bei dieser WM auch irgendwie so etwas wie für die „Wow“-Effekte zuständig ist, beendete er sein erstes Leg im fünften Set mit einem gediegenen Augenschmaus: 20, Bullseye, Double-16, das High-Finish (102) zum 1:0. Gary dachte sich derweil womöglich: „Ich pfeif` auf Augenschmaus und hol` mir lieber das Set.“ So griff er sich drei Durchgänge nacheinander und ging zum ersten Mal an diesem Abend auch in Sätzen in Führung, 3:2.

Daddy brauchte nur noch ein Set für den Viertelfinaleinzug – der Junior war nun völlig aus dem Häuschen! Auch wenn man sich kaum an den Schottenkaro-gemusterten Shirtärmel gewöhnen kann, denn Anderson Junior trug, als er noch komplett „grün hinter den Ohren“ war, voller Überzeugung ausschließlich das Grün seines damaligen Heros Michael van Gerwen. Aber natürlich weiß er mittlerweile schon länger, wer für Essen und Taschengeld zuständig ist. Die Leidenschaft, mit der er seinen Dad zwischenzeitlich unermüdlich anfeuert, ist in jedem Fall wunderbar mitanzusehen. Aber Brendan Dolan schien einfach noch nicht fertig zu sein, mit seiner diesjährigen WM-Mission. Im ersten Durchgang des sechsten Sets nahm er seinem populären Kontrahenten einfach mal so dessen Anwurfleg ab, ein Raunen aus dem Saal – wen störte es? Dolan auf jeden Fall nicht! 1:0. Mit diesem Break in der Tasche genügte es dem 50-jährigen aus dem nordirischen Enniskillen, dass in der Folge jeder nur seinen Anwurf halten brauchte, und damit würde der Underdog den Satz für sich entscheiden. Und dieser Plan ging auf. Dolan zunächst mit der 2:0-Führung, Anderson nahm sich noch den Durchgang zum 1:2, aber schlussendlich holte auch Brendan Dolan wieder sein Leg, damit das Set für den Nordiren. Satzausgleich 3:3, in dieser spannenden Auseinandersetzung ging es über die volle Distanz von sieben Sätzen.

Den Entscheidungssatz begann Brendan Dolan, doch wer glaubte, nun müsste der nurmehr seinen Anwurf halten und wäre durch …, ganz so einfach war es nicht. Denn in diesem Set kam die Two-Clear-Legs-Regel wieder zum Tragen. Nach einem möglichen 5:5 gibt es zwar nur noch das Sudden-Death-Leg, aber soweit waren wir ja auch noch nicht. Die Legverlängerung wollte sich der „History Maker“ in jedem Fall ersparen, zu frisch waren noch die Erinnerungen an sein Match gegen Mickey Mansell.

Beim Stand von 2:1 für Dolan war alles noch in der Reihe, jeder hatte das Leg, das er begonnen hatte, auch für sich entschieden. Vierter Durchgang: ausgerechnet jetzt verließ Gary Anderson seine Treffsicherheit aufs Doppel. Im Leg zuvor hatte der Schotte die 82 noch superb mit 14, 18 und Bullseye ausgemacht, und auch in der Aufnahme zuvor offerierte er mit 20, Triple-20 und Bullseye, 130 ausgezeichnet gelöschte Punkte. Doch es sollte ihm nurmehr gelingen, von den verbliebenen 11 Punkten gerade mal 3 weitere Punkte abzukratzen, bevor Brendan Dolan Leg, Satz und Spiel gewonnen hatte. 4:3.

Auch dieses Ergebnis war für viele eine Sensation. Die Tatsache berücksichtigend, dass der „History Maker“ auch Gerwyn Price in die Knie gezwungen hatte, spricht allerdings eher dafür, dass der Nordire mit einem hervorragenden Masterplan nach London gereist ist, sich konsequent an den vorgenommenen Strategien orientiert und dabei seine Taktik ideal umzusetzen versteht. Auch wenn es Gary Anderson natürlich nicht half, dass er anfangs einem Satzrückstand hinterherlaufen und dabei viele Körner lassen musste, war es nichtsdestotrotz kein nachträgliches Weihnachtsgeschenk an den Gegner, sondern der hat sich ganz individuell einen taktisch enorm smarten Sieg herausgearbeitet. Damit hat sich Brendan Dolan auch seinen ersten Triumpf über Gary Anderson in einem WM-Match verdient.

Brendan Dolan 4:3 Gary Anderson
94,01 Average 93,38
3 180s 3
102 High-Finish 91
2 100+ Checkouts 0
16/37 Finishing 12/38

Dass der „Flying Scotsman“ raus ist, ist natürlich per se wahnsinnig traurig, vor allem auch deswegen, weil sich die vielen deutschen Zuschauer vor Ort nun wieder einen anderen Spieler aussuchen mussten, den sie adoptieren konnten. Einer, der sich dafür bestens eignete, trat schon in der nächsten Partie an: Luke Littler, der Juniorenweltmeister.

Sein heutiger Gegner, Raymond van Barneveld, freute sich Anfang Januar 2007 schon über seinen fünften Weltmeisterpokal, etwa drei Wochen später freute sich Ehepaar Littler im Kreissaal des Krankenhauses im englischen Runcorn über die Geburt eines Jungen, dem sie den Namen „Luke“ geben wollten. Michael van Gerwen hatte in den letzten Tagen eine ziemlich wagemutige Prognose abgegeben: „For sure, Barney will destroy Littler.“ Zu diesem Zeitpunkt stand „Barney“ allerdings noch nicht einmal im Achtelfinale. Zudem drohte „MvG“, (natürlich ausschließlich humorvoll gemeint!), den jungen Mann übers Knie zu legen, wenn der behaupte, Phil Taylor sei sein Idol. Michael van Gerwen war sich sicher, dass er selbst das Vorbild des frisch gekürten Juniorenweltmeisters sein müsse. Wie wird er wohl reagieren, wenn er Luke Littlers jüngste Aussagen hört, die besagen, dass Phil Taylor zwar natürlich sein Idol sei, aber gegen sein größtes Vorbild sollte er heute Abend antreten: Raymond van Barneveld. Puuh, „Dantes Inferno“ ist womöglich harmlos gegen das, was nach dieser Auskunft in „Mighty Mike“ vorgeht ... Nein, ernsthaft, ich denke, selbst van Gerwens Aussagen sind ab und an mit einem Augenzwinkern zu nehmen. Fakt ist jedoch, dass Luke Littler seinem heutigen Kontrahenten nur mit dem höchsten Respekt begegnen wollte und dies auch mehrfach betonte.

Mit allerhöchst gebotenem Respekt, aber auch keinerlei Ehrfurcht am Oche

So teilten sich der 16-jährige Engländer und der 56-jährige Niederländer die ersten vier Durchgänge des ersten Satzes brüderlich. Eher einem erfahrenden Routinier würdig, lieferte „The Nuke“ im fünften Durchgang dann Aufnahmen von zweimal 140, 139 und 82. Dieser starke 11-Darter bedeutete das Break zum Satzgewinn gegen den fünffachen Weltmeister. 1:0 für Luke Littler.

Auch das zweite Set begann der junge Engländer mit Break, „Barney“ hatte einen Versuch auf Doppel gehabt, den aber liegengelassen. Im Anschluss bestätigte Littler das Break auch gleich, 2:0. Dritter Durchgang: der legendäre Niederländer wusste, er musste sich irgendwas einfallen lassen. Dreimal Aufnahmen mit glatt 100 Punkten am Stück, plus einem hervorragenden Set-up-Shot von 177 Punkten, das schien schon mal eine gute Idee zu sein. Und das war sie auch! Die Double-12 beim ersten Versuch getroffen, und endlich konnte auch „Barney“ mal wieder ein Leg für sich verbuchen. Dass er den Jungen von Gegenüber dabei auf der 210 abgehängt hatte, muss noch eine zusätzliche minimale Genugtuung gewesen sein. Dass man jedoch mit einem Leggewinn auch nicht sonderlich weit kommt, diese bittere Erfahrung musste Raymond van Barneveld bereits im nächsten Durchgang hinnehmen. 140 – 133 – 180 – 48, das Leg war schon wieder durch, der Satz auch. 2:0-Satzführung für Luke Littler.

Eigentlich müsste man fast jeden Durchgang des Engländers hier auflisten …, o.k., einer geht noch. Dritter Satz, erstes Leg: 134 – 140 – 127. Übrig blieb die 100. Beim ersten Wurf nur die einfache 20 getroffen, doch für einen Luke Littler stellte das nun wirklich kein Problem dar: Tops-Tops, fertig. 1:0. Auch „Barney“ traf beim Versuch, die 127 im zweiten Durchgang rauszunehmen, erstmal die einfache 20. Und natürlich weiß auch er, sofort darauf zu reagieren. Weitere 107 Punkte vor der Brust, versenkte er daher seine Darts in Triple-19 und Bullseye, auch fertig und auch nicht schlecht! 1:1. Im dritten Durchgang holte sich der Niederländer dann auch gleich das Break, ging damit 2:1 in Front. Aber „The Nuke“ beeilte sich mit dem Re-Break, 2:2, und auch mit der Bestätigung dessen, ließ er sich kaum Zeit. 3:0-Satzführung für Luke Littler.

Das vierte Set war dann der Satz, in dem jeder einfach konsequent sein Leg nach Hause brachte. Ja genau, wir hatten es schon vielfach erläutert: der Spieler, der den ersten Anwurf hat, ist der Glückliche. Glücklich war in dem Fall: Raymond van Barneveld. Und zwar in mehrfacher Hinsicht, denn endlich hatte auch er seinen ersten Satzgewinn in diesem Achtelfinale eingeholt. 1:3.

Wie viel Zuversicht aufs Viertelfinale ihm die Eins in der Set-Spalte jedoch noch vermitteln konnte, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Gewiss war einzig, dass sein heutiger Gegner wenig Hoffnung auf ein erfolgreiches Comeback zuließ. Doch Aufgeben war auch keine Option, schon gar nicht für einen fünffachen Weltmeister. Die ersten vier Durchgänge des fünften Sets teilten sie sich abermals, 2:2. Und auch in diesem Satz war wieder der der Profiteur, der Leg Eins, Drei und Fünf begonnen hatte. Da das im letzten Set Raymond van Barneveld war, war es natürlich nur logisch, wer diesen Satz gewann. Klar, das war Luke Littler. Einziger Unterschied: sein Gegner stand in zwei der Leggewinne noch bei über 200 Punkten, während der Engländer schon ausmachte. 4:1. Diese nicht selten klaren Vorsprünge machten letztendlich auch den Average-Unterschied aus. „Barney“ mit herausragenden 99,61 schon megastark unterwegs, aber Luke Littler wusste halt auch das mit einem abermals sensationellen Average von knapp über 105 nochmal zu toppen.

Der Juniorenweltmeister im Viertelfinale, während Darts-Ikone, Raymond van Barneveld, ihm wünschte, er möge nun auch den ganzen Weg gehen. O.k., Juniorenweltmeister und Weltmeister in einer Saison – das wäre … Nein, ich finde kein Wort dafür. Wo soll das noch hinführen, wenn selbst mir die Superlative ausgehen?

Luke Littler 4:1 R. van Barneveld
105,01 Average 99,61
9 180s 6
100 High-Finish 127
1 100+ Checkouts 1
14/28 Finishing 9/20

Das letzte Match des Abends, des Achtelfinales und des Jahres

Und wer hätte geglaubt, dass es das vielleicht größte Drama des Jahres werden könnte? Hatte man nach dem Duell Luke Humphries gegen Ricardo Pietreczko schon angenommen, dass es dramatischer nicht hätte sein können, so wussten Joe Cullen und Luke Humphries diesen unerbittlich nervenaufreibenden Aspekt noch zu toppen. Drastischer kann ein Spiel nicht enden!

Doch ich greife hier vor. Zunächst zum „gemütlichen“ Anfang. Erstes Set: Die ersten vier Durchgänge teilten sie gerecht unter sich auf, mal indem jeder seinen Anwurf hielt, mal mit Break, 2:2. Und selbst in diesem atemberaubenden Match galt: wenn es 2:2 steht und der, der den Anwurf im fünften Leg hat, diesen auch hält, hat er den Satz gewonnen. Hier war es: Joe Cullen, 1:0.

Das Pendel hätte schon im ersten Set auch durchaus in die andere Richtung schlagen können, beide etwa gleich stark unterwegs, aber auch heute verpasste Luke Humphries erstmal unzählige Gelegenheiten. Gar noch mehr Möglichkeiten warf er im zweiten Satz weg. Joe Cullen bedankte sich und räumte drei Legs in Folge ab, 2:0-Satzführung.

Und wieder fragte man sich, wer steckt da im Trikot von Luke Humphries? „Cool Hand“ Luke hatte bei jedem seiner drei triumphalen Major-Titel, den ganzen Turnierverlauf über so ziemlich alles getroffen, was ging. Hier ließ er so ziemlich alles aus, was ging. Und so wie der „Rockstar“ jeden Krümmel vom Teppich vor dem Oche jedes Mal äußerst penibel aufliest, so sorgfältig sammelte er auch alles auf, was der Gegner an Chancen liegen ließ.

Im dritten Satz begann Joe Cullen abermals ordentlich bis stark, hatte sich dann aber im Verlauf des Durchgangs zu sehr vom Missgeschick des Gegners inspirieren lassen und warf seinerseits die Möglichkeiten zum Leggewinn aus dem Fenster respektive am angepeilten Ziel vorbei. „Cool Hand“ Luke gelang es mittlerweile doch, den einen oder anderen Pfeil ins rechte Feld zu manövrieren, schaffte das Break, 1:0. Joe Cullen umgehend mit dem Re-Break, 1:1. Humphries setzte die Break-Serie fort, 2:1. Im vierten Durchgang hatte der dreifache Major-Sieger nur noch die 88 vor Augen, und diesmal versenkte er beide Pfeile auf Anhieb, d.h. erst in der Triple-20, dann auch in der Double-14. Der Satzanschluss war endlich hergestellt. 1:2.

Schon jetzt lag so viel Spannung in der Luft, man hätte sie mit Händen greifen können

Und das packende Drama bekam seine Fortsetzung im vierten Satz. Beide inzwischen mit ähnlicher Unsicherheit aufs Doppel gesegnet, war es mittlerweile nur eine Frage dessen, wer zuerst den letzten Fehler macht. Oder anders ausgedrückt: wer einen Fehler weniger machte. Auch mit dieser Strategie teilten sie sich die ersten vier Durchgänge des vierten Sets, auch hier einmal mit und einmal gegen den Anwurf, 2:2. Einmal mehr gewann der den Satz, der auch Anwurf im fünften Durchgang hatte: Luke Humphries. Wobei der Weg über zweimal 140 und einmal 180 auch ausgesprochen sehenswert war. Nur dass er dann wieder fünf Versuche benötigte, um die 41 auszumachen, war vielleicht noch ein kleiner Wehrmutstropfen. Der 2:2-Satzausgleich dennoch hochverdient.

Des Dramas ersten Teil bekamen wir dann endgültig im fünften Satz präsentiert. Die ersten zwei Durchgänge verliefen noch geregelt, jeder hatte sein Leg an sich genommen, 1:1. Dritter Durchgang: Humphries gelang konsequent und ohne Umschweife das Break, 2:1. Vierter Durchgang: „Cool Hand“ Luke begann sein Leg durchwachsen, mit vier unterschiedlich zu bewertenden Aufnahmen, d.h. zwei fette Aufnahmen vermengten sich mit zwei mageren. Restbetrag 16. Davon löschte er bei der nächsten Aufnahme gerade mal 12 Punkte, Rest: 4. Joe Cullen machte es drüben nicht viel besser, bei ihm überwogen gar die mageren Punkteansammlungen. Als Humphries jedoch beim Versuch, dem Restbetrag 4 Herr zu werden, wieder nur die 2 und die 1 traf, nutzte Joe Cullen diese Chance, um endlich über die Ziellinie zu stolpern. 2:2. Ja, und als der „Rockstar“ dann das fünfte Leg verabschiedete, war Luke Humphries nicht einmal in der Nähe des Doppelfeldes angekommen, versuchte, noch an der 204 herum zu kratzen. 3:2 in Sätzen für Joe Cullen.

Natürlich war das noch lange nicht die Vorentscheidung, denn im sechsten Set war es Luke Humphries, der drei aufeinanderfolgende Legs an sich riss, wobei Cullen in zwei der drei Durchgänge, mindestens eine Chance zum Checkout gehabt hatte. Somit bot auch dieser Satz keinerlei Möglichkeit, den Adrenalinspiegel mal für einen kurzen Moment zu schonen. Ergebnis der drei Leggewinne von Luke Humphries war natürlich der abermalige Satzausgleich, 3:3.

Es ging, wie sollte es in diesem Nervenkrieg auch anders sein, in den siebten Satz, wo sich nicht nur die endgültige Entscheidung herausstellen, sondern auch die endgültige Implosion des Dramas anbahnen sollte.

Erster Durchgang: Joe Cullen hatte Anwurf, Luke Humphries mit der Möglichkeit, die 164 auszuchecken. „Cool Hand“ Luke traf zweimal die Triple-19, scheiterte aber am Bullseye, Rest 25. Der „Rockstar“ nutzte dagegen die Chance, seinen Anwurf zu halten, 1:0.

Zweiter Durchgang: Luke Humphries mit der Möglichkeit, die 88 zu löschen, wieder war es das Bullseye, das ihm einen Strich durch die Rechnung machte, wieder waren es 25 Punkte, die übrig blieben. Cullen ergriff auch hier seine Chance, diesmal aufs Break, 2:0.

Wie schon ein paar Mal bei dieser WM, fand Luke Humphries abermals in der letzten Sekunde die Reißleine und zog daran jetzt besonders kräftig. Auch wenn er beim Versuch, die 122 zu eliminieren, die Triple-7 als nicht besonders hilfreich empfand, sollte er eine weitere Gelegenheit bekommen, ans Oche zurückzukehren. Diese letzte Chance bekam er, weil auch Joe Cullen in seiner letzten Aufnahme dieses Legs, Bekanntschaft mit der Triple-7 gemacht hatte. Die verbliebene 56 löschte Humphries dann unmittelbar im Anschluss. 1:2, „Cool Hand“ Luke hatte gerade so nochmal den Rettungsanker ergriffen.

Im vierten Durchgang hatten wieder beide mehrere Chancen, das Leg zu gewinnen, und auch beide haarscharfe Möglichkeiten, das Leg zu verlieren. Für Humphries hätte der Legverlust auch den Matchverlust bedeutet, also machte er tunlichst einen Fehler weniger und zog ein weiteres Mal seinen Kopf aus der Schlinge. So war es der Ausgleich 2:2. Caller, George Noble, der bei dieser WM offensichtlich für sämtliche Marathonmatches zuständig ist, erklärte die Regel, die nun zutraf: Two-Clear-Legs.

Den fünften Durchgang befand Joe Cullen als besten Zeitpunkt, mal wieder ein High-Finish, 116 (19, T19, D20) auszupacken. Gute Idee! 3:2.

Nach diesem überzeugenden Checkout, ohne Wackler und ohne Zittern, meinte man, da hätte zumindest einer der beiden wieder in die Spur gefunden und nun genug Selbstbewusstsein, um auch noch den letzten Schritt über die Ziellinie zu machen. Weit gefehlt! Stattdessen war des Dramas nächster Teil angebrochen. Denn Luke Humphries bewertete den Einfall seines Gegner als so gut, dass er ihn umgehend in sein eigenes Repertoire mitaufnahm. Auch er lieferte das High-Finish. Und weil er beim Versuch, die 100 auszuradieren, erstmal nur die einfache 20 traf, bewies er nervenstark, dass auch er Tops-Tops kann. 3:3. Die Aufregung war kaum noch auszuhalten. Es war zu befürchten, dass es zum „Sudden-Death-Leg“ kommen würde, und auch der eigene Herzschlag raste bedrohlich.

Im siebten Durchgang hatte möglicherweise auch der sonst so coole Luke seinen Puls nicht mehr im Griff, denn die Suche nach den Triple-Feldern erwies sich als relativ unergiebig. Joe Cullen zog daraus die einzig mögliche Konsequenz und ging wieder in Führung, 4:3.

Im achten Durchgang tauschten sie die Rollen wieder, da war der „Rockstar“ zunächst nicht fündig geworden, als es galt, möglichst hohe Aufnahmen zu erzielen. Auch Humphries bestrafte dies auf direktem Wege, 4:4.

Im neunten Durchgang durfte sich Humphries dann beim Checkout drei Fehler mehr als sein Gegner erlauben, weil er auf dem Weg dorthin einige Fehler weniger als sein Gegner gemacht hatte. Die Folge dieser Konstellation war: der dreifache Major-Triumphator holte das 5:4.

Obwohl es noch nicht der letzte Aufreger gewesen sein sollte, erreichte das Drama seinen Höhepunkt bereits im zehnten Leg

Luke Humphries zitterte acht Darts am Doppel vorbei, beim Versuch, das Spiel für sich zu entscheiden. Es wären in diesem Leg sogar schon zehn(!) Matchdarts gewesen, hätte er in einer der Aufnahmen nicht die Double-12 anstelle der Double-5 getroffen. Auf der anderen Seite versuchte derweil Joe Cullen die 132 auszumachen, um noch mindestens ein Leg lang im Match zu bleiben. In diesem Fall würde dann nämlich der Best-of-11-Legs-Modus zum Tragen gekommen. Mit absoluter Sicherheit traf der „Rockstar“ zweimal in Folge mitten ins Bullseye. Doch der Versuch, den Legdart anschließend in der Double-16, die weit mehr Platz bot, zu versenken, scheiterte kläglich. Wie gesagt, Humphries vergeudete derweil selbst vier Gänge ans Oche, also massenhaft Zeit auch für Cullen. Und der machte es seinem Kontrahenten nach, überwarf sich ebenfalls einmal. Bei ihm war es statt der Double-4, die Double-18, die er abschoss. „No score!“, hier auch für ihn. Dennoch war er es, der schlussendlich mit dem sechsten Legdart das Doppelfeld doch noch traf, als beide Spieler ungewohnt aufgeregt und ebenso fassungslos wirkten, nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit lang immer wieder neu angesetzt hatten. Humphries hätte bei Leggewinn seinen Zwei-Leg-Vorsprung gehabt, stattdessen hieß es 5:5.

Damit stand der definitiv letzte Durchgang an. Joe Cullen begann das Leg mit 100 und zweimal 140, kein schlechter Start. Auf der anderen Seite fing Luke Humphries den Durchgang mit der 180 an, es folgte die 140 und die 81 – der Beginn war auch nicht von schlechten Eltern. Doch während Cullen beim Versuch, der 121 Herr zu werden, nur 41 Punkte wegwischte, endete Luke Humphries Herantreten an die 100 (T20, 20, D10) mit dem erfolgreichen Gang über die Ziellinie. Inklusive des vorausgegangenen Legs war es der x-te Matchdart gewesen – der wievielte? Ach, who cares! Auf jeden Fall hieß der Sieger dieser Partie Luke Humphries.

Luke Humphries 4:3 Joe Cullen
99,23 Average 98,66
12 180s 12
100 High-Finish 116
2 100+ Checkouts 1
19/56 Finishing 17/50

Dachte man schon beim Match gegen „Pikachu“, man hätte das Maximum an Erleichterungsvermögen bei „Cool Hand“ Luke gesehen, so musste man heute feststellen, dass sich auch dies noch steigern ließ. Auf der anderen Seite: der Verlierer, den es eigentlich gar nicht hätte geben dürfen, Joe Cullen, ein einziges Häufchen Elend. Luke Humphries auf jeden Fall im Viertelfinale – wie er sich binnen so kurzer Zeit von zwei derart anstrengenden Matches erholen will, ich weiß es nicht. Allerdings gut, dass er erst nächstes Jahr wieder ran muss … Oh my God, das ist schon übermorgen!

Das war er also, der letzte Spieltag des Jahres. Wir melden uns dann erst im nächsten Jahr wieder und hoffen, dass Sie es so lange ohne uns aushalten. In diesem Sinne: kommen Sie gut rüber UND stay bright, nice flight.

Fotos © PDC @ Darts1

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