Psychischer Druck Inhaltsverzeichnis der Doktorarbeit

Erklärungsansätze für Leistungseinbußen in Drucksituationen

Dr. Heiko Maurer

3.4 Neuromotor Noise Theory

Die in den letzten Abschnitten dargestellten Aufmerksamkeitstheorien nähern sich dem choking-Phänomen aus einer kognitiven Perspektive. Die hier beschriebene Neuromotor Noise Theory (NNT) beschreibt Bewegungsverhalten unter Einbeziehung mechanischer Eigenschaften und Adaptionsmechanismen des motorischen Systems und kann damit wichtige Erweiterungen bisheriger Betrachtungen liefern. Ausführlich dargestellt wird die Theorie bei van Galen und van Huygevoort (2000). Es liegen eine Reihe weiterer Arbeiten vor, die eine Prüfung der Annahmen und Vorhersagen der Theorie vornehmen (van Galen, van Doorn & Schomaker, 1990; van Galen & Schomaker, 1992; van Galen & De Jong, 1995; van Gemmert & van Galen, 1997, 1998; van Galen, Müller, Meulenbroek & Gemmert, 2002; Meulenbroek, van Galen, Hulstijn, Hulstijn & Bloemsaat, 2005).

Die Vorhersagen der NNT wurden bisher nur für kleinräumige Zielbewegungen formuliert und überprüft, um beispielsweise die Ursachen für den zu beobachtenden Geschwindigkeits-Genauigkeits-Abgleich bei Zielbewegungen zu beschreiben. Es wird jedoch ein allgemeiner Mechanismus beschrieben, der auch in anderen Situationen von Bedeutung sein sollte. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Beobachtung, dass motorisches Verhalten immer mit Ungenauigkeiten verbunden ist. Bereits bei Woodwoth (1899) wird die Beobachtung formuliert, dass das Ausmaß der Bewegungsungenauigkeiten in enger Verbindung mit der Ausführungsgeschwindigkeit steht. Dieser Geschwindigkeits-Genauigkeits-Abgleich wird später von Fitts (1954) mathematisch beschrieben. Als Ursache für die Ungenauigkeiten im motorischen Verhalten wird meist „neuromotorisches Rauschen“ (neuromotor noise) angenommen (Fitts, 1954; Meyer, Abrams, Kornblum, Wright & Smith, 1988). Dabei wird „neuromotorisches Rauschen“ als Sammelbegriff für alle Ungenauigkeiten verstanden, die auf unterschiedlichen Ebenen des motorischen Systems – von kortikalen Verarbeitungsprozessen bis hin zur Aktivierung motorischer Einheiten – entstehen (De Jong & van Galen, 1997). Die Auswirkungen des neuromotorischen Rauschens auf die Bewegungsausführung lässt sich beispielsweise anhand des Frequenzspektrums von Bewegungstrajektorien nachweisen (van Galen et al., 1990; van Galen & Schomaker, 1992). In diesen Untersuchungen wurden Bewegungen mit einem Stift auf einem Digitalisierungsbrett durchgeführt. Dabei zeigen sich zu jeder Zeit hochfrequente Schwankungen in den erzeugten Bewegungstrajektorien, die auf das neuromotorische Rauschen zurückgeführt werden. Die resultierenden Ungenauigkeiten im Bewegungsverhalten lassen sich aber auch im Alltag beobachten, wenn man beispielsweise versucht einen Faden durch ein Nadelöhr zu führen oder auch einfach die Hand ganz ruhig zu halten.

Weiterhin wird davon ausgegangen, dass der Rauschanteil im motorischen Signal durch physische, biomechanische und psychologische Faktoren beeinflusst wird. Auch dieser Zusammenhang ist aus Alltagssituationen bekannt, wenn von der sprichwörtlichen „zittrigen Hand“ in besonders wichtigen, aufregenden oder emotionalen Situationen gesprochen wird. Dies führt zum zentralen Aspekt der NNT, wonach Regulationsmechanismen zur Verfügung stehen, um die Ungenauigkeiten im motorischen Verhalten auf die Erfordernisse der Aufgabe anpassen zu können. Die Theorie sagt voraus, dass diese Regulation über eine Anpassung biomechanischer Parameter der Gliedmaßen erreicht wird. Für eine solche Anpassung sind prinzipiell verschiedene Parameter denkbar (van Galen & De Jong, 1995; van Galen, Hendriks & De Jong, 1996). So kann beispielsweise das Trägheitsmoment des Effektors verändert werden, indem die Gelenkwinkel angepasst oder auch die Masse durch Einbeziehung anderer Gegenstände (z. B. Unterdrücken eines Tremors durch Festhalten an einem Gegenstand) verändert wird. Auch eine Anpassung der Viskosität der beteiligen Muskulatur ist denkbar. Als entscheidend wird von den Autoren jedoch der Parameter Gliedmaßensteifigkeit (limb stiffness) angesehen. Dabei ergibt sich die Gliedmaßensteifigkeit als Produkt der statischen Muskelaktivität und einem konstanten Verstärkungsfaktor. Die statische Muskelaktivität wird durch Kokontraktionen der antagonistischen Muskulatur der Gliedmaßen erzeugt und beschreibt die muskuläre Grundaktivität, die keine Veränderung des Bewegungszustandes bewirkt. Davon unterschieden wird die dynamische Muskelaktivität, also die darüber hinaus erzeugten Kräfte der agonistischen Muskulatur, die zu einer Veränderung des Bewegungszustandes führen (vgl. van Galen & De Jong, 1995). Wie oben dargestellt besteht also ein lineares Verhältnis zwischen Gliedmaßensteifigkeit und der muskulären Aktivität. Dagegen wird angenommen, dass die zufälligen Fluktuationen bei der Kraftproduktion – und damit das neuromotorische Rauschen – in einem Quadratwurzelverhältnis mit den erzeugten Kräften steht. D. h. also, dass die durch die Muskulatur erzeugten Kräfte schneller ansteigen als das damit einhergehende motorische Rauschen (van Galen & De Jong, 1995). Damit wird ein einfacher Filtermechanismus beschrieben, durch den die Endpunktvariabilität bei Zielbewegungen durch eine Erhöhung muskulärer Kokontraktionen erreicht werden kann.

Unterstützung für die NNT ergibt sich aus unterschiedlichen Richtungen. In Simulationsrechnungen anhand eines eingelenkigen Armmodells konnten van Galen und De Jong (1995) die für Zielbewegungen vorhergesagte geringere Endpunktvariabilität bei höherer Gliedmaßensteifigkeit bestätigen. Das Ansteigen muskulärer Kokontraktionen und damit der Gliedmaßensteifigkeit bei erhöhten Genauigkeitsanforderungen ist aber auch in realen Situationen und bei komplexen Zielbewegungen zu beobachten. So können Gribble, Mullin, Cothros und Matter (2003) zeigen, dass Zielbewegungen auf kleinere Ziele mit stärkeren Kokontraktionen der Armmuskulatur verbunden sind. Dies geht einher mit einer abnehmenden Variabilität der Bewegungstrajektorien und einer geringeren Endpunktvariabilität. Entsprechend der Vorhersagen der NNT kann in einer Reihe von Untersuchungen nachgewiesen werden, dass auch erhöhte Stressbelastungen ganz unterschiedlicher Art zu einem Anstieg der muskulären Aktivität führen. Dabei ist anzumerken, dass der Stressbegriff von den Autoren sehr allgemein verwendet wird und neben psychisch belastenden Situationen auch solche umfasst, die mit erhöhtem Verarbeitungsaufwand einhergehen. Beispielsweise kann dies bei der Ausführung unter Zeitdruck (van Galen & van Huygevoort, 2000), bei erhöhter Geräuschkulisse (Meulenbroek et al., 2005) oder auch bei hohem kognitiven Verarbeitungsaufwand durch Doppelaufgabenbedingungen (van Galen & van Huygevoort, 2000; van Galen et al., 2002) oder durch Transformationsanforderungen (van Den Heuvel, van Galen, Teulings & van Gemmert, 1998) gezeigt werden.

Wie bereits beschrieben, wird die Neuromotor Noise Theory für kleinräumige Zielbewegungen formuliert und bisher auch nur in diesem Kontext geprüft. Allerdings lassen sich Ergebnisse und Zusammenhänge aus anderen Bereichen plausibel in diese Betrachtungsweise integrieren. So finden auch Weinberg und Hunt (1976, 1978) bei ängstlichen Personen stärkere Kokontraktionen in der Armmuskulatur nach negativem Feedback bei der Ausführung einer Wurfaufgabe. Helin (1988) untersucht die Muskelaktivität im Trapezius bei professionellen Tänzern. Auch hier veränderte sich die Muskelaktivität in Abhängigkeit der psychischen Belastungen vor, während und nach der Aufführung. Auch allgemein wird das Ansteigen der Muskelaktivität als ein Indikator für zunehmende Aktiviertheit (arousal) beschrieben (Zaichkowsky & Baltzell, 2001). Wie in Abschnitt 3.1 erläutert, wird in den klassischen Beschreibungen der Leistungsentwicklung in bedeutsamen Situationen ein zu starker Anstieg der Aktiviertheit als Ursache für Leistungsverschlechterungen gesehen. Die NNT liefert damit – zumindest für kleinräumige Zielbewegungen – eine Beschreibung, aus der sich die umgekehrt-U-förmige Aktiviertheits-Leistungs-Beziehung ableiten und erklären lässt. Im Gegensatz zu vielen anderen Überlegungen lassen sich hiermit also auch Leistungssteigerungen erklären. Niedrige und mittlere Stressbelastungen können durch eine Anpassung der Muskelsteifigkeit kompensiert und sogar überkompensiert werden und so zu einer Erhöhung der Ausführungsgenauigkeit führen. Bei einem zu starken Anstieg des neuromotorischen Rauschens kann dieses jedoch nicht mehr durch eine Anpassung der Gliedmaßensteifigkeit kompensiert werden und es kommt zu einer Abnahme der Genauigkeitsleistungen (van Galen & van Huygevoort, 2000).

Vor dem Hintergrund der Neuromotor Noise Theory könnte das sprichwörtliche Verkrampfen in psychisch belastenden Situationen ein Filtermechanismus darstellen, der verhindern soll, dass das in solchen Situationen erhöhte neuromotorische Rauschlevel zu erhöhten Ungenauigkeiten im Bewegungsvollzug führt. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob und wenn ja wie sich dieser funktionale Wirkmechanismus bei der Ausführung sportlicher Bewegungen leistungsmindernd auswirken sollte. Während bei der NNT das Versteifen der Muskelaktivität zumindest anfangs zu höheren Zielgenauigkeitsleistungen führen sollte, wird im Rahmen der in Abschnitt 3.3.3 beschriebenen Ergebnisse und Überlegungen von Hossner (2004; siehe auch Ehrlenspiel, 2001) das umgekehrte Ergebnis vorhergesagt. Eine Erklärung dafür könnte in der Unterschiedlichkeit der untersuchten Aufgaben liegen. Das Versteifen eines Effektors kann hilfreich sein, um motorisches Rauschen im Endpunkt des Effektors zu vermeiden. Bei Aufgaben, bei denen ein komplexes Zusammenspiel der einzelnen Gelenke und Extremitäten erforderlich ist, könnte sich dies jedoch auch durch eine Reduktion kompensatorischer Prozesse negativ auswirken.


>> Fazit

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